karfizius_eulenstadt_-_de_natura_artium_magicarum

Karfizius Eulenstadt: De Natura Artium Magicarum

TRADITIO et INVOCATIO
halbjährlich erscheinendes Journal der Akademie der Magischen Künste zu Alt-Trutzburg

De Natura Artium Magicarum
Versuch einer systematischen Erfassung der magischen Künste im weiteren Sinne,
im Interesse der Präzisierung zukünftiger Forschungsanstrengungen
scripsit Karfizius Eulenstadt,
Ordinarius Academiae Magicae Castrae Antiquae,
Cathedra Theoriae Artibus Magicarum

Vorrede

Auf Drängen vieler Alumni meiner Vorlesung zu den Grundzügen magischer Theorie habe ich mich entschlossen, den folgenden Teil des Vorlesungsskripts in eine eigenständig lesbare Form zu bringen, nicht zuletzt, um zukünftigen Semestern die Möglichkeit zur Vorbereitung zu geben, um schneller zu den wirklich interessanten Themengebieten vordringen zu können.

Beschreibung des Untersuchungsobjektes

Magie ist ganz ohne Zweifel diesem Teil der Welt zugehörig, den der nicht magiekundige Laie leider nur zu oft und gänzlich zu Unrecht als „übernatürlich“ bezeichnet. Wie die magische Forschung zweifelsfrei belegt 1), ist die Magie genau wie andere nicht mundäne Phänomene Teil eines zusammenhängenden Systemums, dessen Trennung in „natürlich“ (eigentlich: dem Laien begreiflich) und „übernatürlich“ nicht nur unsinnig, sondern dem Erkenntnisgewinn regelrecht abträglich und schädlich ist. Wir postulieren demnach: Magie ist - im Sinne des unkundigen Laien wie auch nach rigoroser Begriffsabgrenzung, siehe unten - eine Unterkategorie dessen, was wir ganz allgemein als nicht-mundäne Phänomene bezeichnen wollen. Nota bene: dies bedeutet ganz ausdrücklich nicht, daß solche nicht-mundänen Phänomene nicht der Welt an sich und als solcher angehören, sondern lediglich, daß dem ungebildeten Laien ihr Wirken verschlossen bleibt, und sie daher in das begrifflich trügerische Reich des Übernatürlichen verweist.
Zu einer präziseren Definition der Magischen Kunst bedarf es weiterer Überlegungen, die ich Folgenden darlegen will.

Phænologia Magica

Mit Wiffelsputz 2) möchte ich mich der Definition im Wege der Induktion nähern. Ich postuliere daher zunächst, daß all diejenigen Dinge, die landläufig als Magie bezeichnet werden, auch tatsächlich einen gemeinsamen wesentlichen Kern haben. Ist dieses Postulat erst einmal bestätigt, wird sich aus diesem Wesenskern eine schärfere Fassung des Begriffs der „Magie“ ableiten lassen.
Dabei kann es nicht zum Ziele führen, eine jede Schule, Tradition, Begabung oder sonstige Erscheinungsform der Magie haarklein zu sezieren. Vielmehr sind dem akademisch geschulten Betrachter sofort bestimmte Klassen magischer Kunst ersichtlich 3). Ich will diese Klassen im Folgenden kurz und mit besonderem Augenmerk darauf charakterisieren, was ihnen gemeinsam ist und was sie wesentlich unterscheidet 4).
Da haben wir zunächst einmal die Scholastische Magie, wie sie in höchster Vollendung in Alt-Trutzburg gelehrt wird, häufig und keineswegs zu Unrecht angesehen als die edelste aller magischen Künste. Ihr eigen ist der Bezug des magischen Wirkung auf ein zugrundeliegendes theoretisches System, welches in gewissem Maße auf das Wirken anderer scholastischer Magier übertragbar ist. Der Zauberkundige ist zwar ganz wesentlich allein mit seiner Kunst befasst 5), doch ermöglicht ihm das genannte System den fruchtbaren Austausch mit anderen Zauberkundigen dieser Richtung. Aus derselben Ursache erwächst das zweite Wesensmerkmal scholastischer Magie, die Formelhaftigkeit. Ein Zauberspruch, der systematisch hergeleitet ist und anderen verbaliter zugänglich gemacht werden kann, lässt sich immer auch schriftlich niederlegen, und wird damit im eigentlichen Sinne zur Zauberformel, die überdauernd wirksam ist. Fassen wir zusammen: ein Scholastiker wirkt formulaische Magie, deren Erzeugung auf systematischer Forschung beruht, niedergeschrieben oder sonstwie tradiert werden kann und durch andere Zauberkundige replizierbar ist 6).
Der scholastischen diametral entgegengesetzt steht die instinktive Magie. Ihrem Wesen nach beruht sie auf keinerlei Forschung, theoretischen Gebäude oder tradiertem Wissen. Vielmehr ist sie direkt und unmittelbar an die Person des Zauberkundigen gebunden, und insofern geschehen ihre Effekte häufig unwillkürlich, sind immer aber in ihrem Entstehen unbewusst 7).
Als Abwandlung der instinktiven ist die ekstatische Magie anzusehen. Hier ist der Entstehungsprozess des magischen Effektes ebenso unbewusst, jedoch wird er erst ermöglicht durch das Zusammentreffen Mehrerer, die im Zuge des Zusammentreffens ihr Bewusstsein ganz absichtlich trüben, um dem magischen Effekt die Bahn zu brechen 8).
Gleichermaßen praktiziert durch eine Gruppe finden wir die kultische Magie, also solche, die zu ihrer Ausführung einen Zauberwirkenden und eine Anzahl Mitwirkender erfordert, wobei letztere eher passiv den magischen Effekt verstärken beziehungsweise ihn überhaupt erst ermöglichen. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, daß die kultische im eigentlichen Sinne keine distinkte Form der Magie ist, sondern lediglich eine gemeinsame Ausübung von Magie, die sich in den bereits aufgeführten Formen, insbesondere der scholastischen und der ekstatischen Magie, verorten lässt. Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal ist es also, das bei kultischer Zauberei sich dem einen Zauberkundigen eine Reihe von Unkundigen hinzugesellt, die förderlich oder gar notwendig sind für das Zustandekommen des Effekts 9).
Schlussendlich begegnet uns mit den invokativen Magie eine letzte eigenständige Erscheinungs­form der Zauberkunst 10). Sie unterscheidet sich von den bereits genannten dadurch, daß die eigentlich beabsichtigte Wirkung der Zauberei nicht durch den Magiekundigen selbst hervorgerufen wird. Vielmehr besteht der Zauber in der Herbeirufung eines nicht-mundänen Geschöpfes, welches – einmal beschworen – den Effekt aus eigener natürlicher Neigung, zu seinem Vorteil oder unter Zwang bewerkstelligt. Nicht scharf hiervon abzugrenzen ist die spiritistische Magie, bei welcher der angerufene Kreis von Wesen enger umrissen ist, und der zu bewirkende Effekt häufig weniger greifbar ist 11).

Versuch über eine Verallgemeinerung

Was ist nun all dem gemeinsam, was wir landläufig als Magie bezeichnen, und im vorangegangenen Abschnitt in groben Strichen systematisiert haben? Betrachten wir zunächst den Zauberkundigen selbst: jeder magische Effekt kommt zustande, indem ein Zauberkundiger die Absicht fasst, diesen Effekt zu bewirken und einen Gedanken dazu formt; die meisten geben diesem Gedanken eine sprachliche Äußerung bei, sei es eine Formel, eine Litanei oder ein Gesang. Damit verlassen wir den eigentlichen Zauberkundigen selbst und wenden uns den äußeren Umständen zu: häufig trachten Zauberkundige, den Effekt zu verstärken, oder überhaupt erst zu ermöglichen durch den Verbrauch von Ingredienzen, oder aber die Gegenwart bestimmter Stoffe oder Artefakte als Focus; bisweilen ist der Effekt nur an gewissen Orten oder zu festgelegten Zeiten hervorzurufen. Weitere Begleitumstände lassen sich finden, wie z.B. die Sichtbarkeit bestimmter Konstellationen der Gestirne, oder die Gegenwart einer Gemeinschaft von Kultisten oder Adepten. Fassen wir also zusammen. Aller Zauberei gemeinsam als conditiones sine quae non sind 12):

  1. (wenigstens) ein Zauberkundiger
  2. die Absicht, einen Effekt zu bewirken
  3. der gedankliche Niederschlag dieser Absicht

Weitere mögliche Gemeinsamkeiten, die nicht in jedem Fall gegeben sein müssen, finden wir in den äußeren Umständen der Zauberei:

  1. die Verwandlung des Gedankens in Sprache
  2. das Zugegensein stofflicher Foci, die nicht verbraucht werden
  3. der Verbrauch von Ingredienzen
  4. die Gebundenheit an einen Ort
  5. den Einfluss der Tages- und Nachtzeit
  6. die Gegenwart Anderer
  7. weitere idiosynkratische Umstände

Quintessenz

So weit, so gut. Bei längerer Betrachtung legen diese Merkmale der Zauberei ein Postulat nahe: die Magie an sich und für sich selbst ist nicht allein ein insubstantieller, rein gedanklicher Begriff, sondern lässt sich als eigenständiges, wenn auch immaterielles Ding begreifen, das die transzendente Resonanz von Inkantation und Kogitation verstärkt. Nehmen wir als Denkfigur eine intangible Substanz oder ein Fluidum an, wir wollen es die fünfte Essenz nennen, die Quintessenz 13). Durch diese Denkfigur lassen sich die genannten Merkmale der Magie im Sinne eines zusammenhängenden Systems betrachten.
Ein Zauberkundiger ist sodann jemand, der sich im Gegensatz zum Laien eben jene Quintessenz zu Nutze machen kann. Die Tatsache, daß manche - aber eben nicht alle - magischen Künste ihren Zauberkundigen gestatten, an jedem beliebigen Ort Effekte hevorzurufen, lässt nur zwei Schlüsse zu: entweder ist Quintessenz grundsätzlich ubiquitär, und nur von Personen manipulierbar, die eine Veranlagung dazu mitbringen; oder aber ein magisch Begabter trägt ein Maß an Quintessenz in sich und seiner Person, welches ihm die Zauberei ermöglicht. Die Tatsache, daß das wiederholte Wirken von Magie innerhalb kurzer Zeit zu einem Erschöpfungszustand führt, ist entgegen landläufiger Meinung kein Beleg für die Überlegenheit des personalen Erklärungsansatzes. Genau so gut ist vorstellbar, daß der Kanalisierung von ubiquitärer Quintessenz durch den Geist des Zauberkundigen Grenzen gesetzt sind 14).
Absicht und Gedanke sind in diesem System die kogitativen Handgriffe, mit denen der Geist des Zauberkundigen ein Quantum an Quintessenz ergreift, formt, und ihm schließlich Abbild und Form in der wahrnehmbaren Welt gibt. Dann wären Formeln und Litaneien vergleichbar mit Anleitungen und Einübungen dieser Handgriffe, um sie schneller und verlässlicher von der Hand gehen zu lassen.
Gegenständliche oder stoffliche Foci wären somit zu erklären als etwas, daß dem Zauberkundigen die Nutzung von Quintessenz erleichtert, oder ihm ermöglicht, mehr Quintessenz zu verwenden 15).
Ingredienzen hinwiederum ist zu unterstellen, daß ihnen selbst Quintessenz wesentlich ist. Diese verbraucht der Zauberkundige im Zug des Effekts, wodurch das Ingredienz entweder unwirksam oder aber auch stofflich ganz und gar zunichte wird.
Der Einfluss der Zeit ließe sich damit erklären, daß die ubiquitäre Quintessenz gleich einer Tide an-und abschwillt, so wie auch die See dem Einflusse des Mondes unterliegt.
Für die Wirkung der Gegenwart anderer Beteiligter sind zweierlei Erklärungen denkbar: zum einen mögen sie gut zugängliche Reservoire an Quintessenz abgeben, die der Zauberkundige während der Zauberei leert; zum anderen mögen ihre auf den Effekt eingestimmten Geister im Zauberkundigen die Geschicklichkeit und Kontrolle der Quintessenzmanipulation unterstützen.

Conclusio

Ausgehend von bestehender Forschung habe ich ein pragmatisches Kategoriensystem für die Spielarten der Magie entworfen. Es konnte im Wege der Induktion gezeigt werden, daß alle diesen Spielarten Gemeinsamkeiten haben. Schließlich postuliere ich mit dem Begriff der Quintessenz eine Denkfigur, die diese Gemeinsamkeiten in einen systematischen Zusammenhang bringt.
Ich will es noch einmal betonen: ich habe selbst noch kein Quentchen Quintessenz gesehen, gerochen oder sonstwie wahrgenommen. Bis dato ist sie allein Postulat, nützlich als gedankliche Hilfe bei der theoretischen Analyse der Zauberei. Ich lade alle Fachkollegen ein, dieses Postulat zu diskutieren, gerne auch, es zu widerlegen. Bis das jedoch einem Anderen oder mir selbst gelingt, will ich es weiterhin für meine Arbeit nutzen.


1)
Zum theoretisch unwiderlegbaren Beweis der Identität von Natur und so genannter Übernatur sei mein eigenes Werk 'Der Trugschluss des Laien zum Mundus Supernaturalis' angeführt. Ebenso bei Theobalda zu Auerstädt 'Die illusorische Dichotomie' und Anaximandros 'Die Grenzen der Natur'.
2)
Claudius Diethelmus Wiffelsputz 'Von der Anwendung philosophischer Paradigmen auf die Magischen Künste'.
3)
Zur genaueren Herleitung dieser Arten vergleiche Cordelia de la Torre 'Erscheinungsformen der Magie der Bekannten Welt'.
4)
Wie man sehen wird, ist die letztlich auf dem Volksmund basierende Klassifizierung weder überschneidungs- noch widerspruchsfrei. Der geneigte Leser mag sich jedoch in Geduld üben, da ich zeigen werde, daß gerade diese Unschärfe daher rührt, daß den verschiedenen Künsten Grundlegendes gemein ist.
5)
Er bedarf keiner Kongregation, wie etwa die weiter unten dargelegte kultische Magie, wenn er auch nach Ermessen Famuli in sein Wirken einbezieht.
6)
Und mögen einige der hochgeschätzten Kollegen auch noch so sehr zetern darüber und auf ihre akademischen Würden pochen: in denselben Topf geworfen gehören die Hexe, der Kräuterheiler und der Alchimist. Zwar sind deren theoretischen Systeme löcherig und widersprüchlich, ihre Forschungsanstrengungen bemitleidenswert, und ihre Traditionen bestenfalls unvollkommen; dennoch folgen diese armen Toren auf ihre dilettantische Weise demselben Grundverständnis magischer Kunst wie wir Ordinarii.
7)
Zweifelsohne verwenden Instinktive Magier Ihre Begabung oft mit Vorsatz und einiger Zielstrebigkeit. In dieser Hinsicht ist die Wirkung instinktiver Magie nicht unabsichtlich, die Art und Weise, wie sie im Zauberkundigen jedoch entsteht, bevor sie wirkt, ist jedoch gänzlich unbewusst.
8)
Als ausführliche Darlegung des Forschungsstandes zur Instinktiven sowie Ekstatischen Magie empfehle ich de la Torre 'Erscheinungsformen der Magie der Bekannten Welt', Bd. III
9)
Eine ausgesprochen luzide und methodisch stringente Analyse der kultischen Magie findet sich in Edgitha Verbenas Beitrag 'Der rotistische Gottesdienst, dekonstruiert als Gemeinsame Zauberey'. Nach meiner Überzeugung findet die Forschung dieser auf Grund kirchlicher Nachstellungen leider in's Verborgene getriebenen Kollegin viel zu wenig Beachtung.
10)
Ich bin mir der Darlegungen des geschätzten Kollegen Otoaker Bayderbeke in seiner Schrift 'Beschwörung ist keine Zauberei: Zurückweisung all derer Invokanten, die sich den Status eine Magus Ordinarius anmaßen', durchaus vertraut, teile sie allerdings in den Grundzügen nicht. Somit habe ich mich entschieden, in diesem Beitrag auf der sicheren Seite zu irren, und lieber eine Erscheinungsform der Magie zu viel zu berücksichtigen, als eine zu wenig. Bei allen fachlichen Differenzen ist jedoch Bayderbekes Ende auf dem Scheiterhaufen bedauerlich und unverhältnismäßig.
11)
Manch einem Kollegen dieser Disziplin scheint es allein um die Zusammenkunft mit den Geistern an sich zu gehen, ohne daß damit irgendein nützlich Ding bewerkstelligt wäre.
12)
Insofern erscheint es gerechtfertigt, vom magischen „Effekt“ zu sprechen, als einem beabsichtigten, vorsätzlich ausgelösten, und (jedenfalls in gewissem Maße) in seinem Verlauf gelenkten Phänomen.
13)
Wohlgemerkt, und ich kann dies nicht genug betonen: die Quintessenz ist eine Denkfigur zur Veranschaulichung und zur Disputation, keinesfalls eine akkurate Beschreibung der übernatürlichen Wirklichkeit. Zur Illustration dessen, was passiert, nimmt man diese Begriffe allzu wörtlich, sei verwiesen auf den 'Bericht zur Verheerenden Conflagration des Alchemischen Traktes der Akademie zu Alt-Trutzburg, hervorgerufen durch die Einrichtung einer Quintessentiellen Destille', publiziert im Jahrbuch der Akademie.
14)
Als Analogie mag ein Muskel wie die Lunge dienen, die ebenfalls nur in begrenztem Maße Luft durch den Körper pumpen kann, ohne zu erschöpfen.
15)
Die Kollegen Alchimisten verwenden für ein solches Phänomen den Begriff des Catalysten.
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  • Zuletzt geändert: 31.05.2022 16:51
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